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Declaration of love for my handicapped brother] Mit beiden Beinen fest im Himmel. Liebeserklärung an meinen behinderten Bruder

Kurzbeschreibung

Grenzenlos glücklich - immer in Schwierigkeiten. So in etwa könnte Irmtraud Tarr das Thema ihres neuen Buches Mit beiden Beinen fest im Himmel umfassen. Plötzlich bricht ihr seit seinem 20. Lebensjahr behinderter Bruder - ein Autounfall löste ein Hirntrauma mit dauerhafter Schädigung des Gehirns bei ihm aus - in ihr wohltemperiertes Leben zu zweit ein.

Er braucht Hilfe und Begleitung und kommt als ihr ungewöhnlicher „Pflegesohn“ ins Haus. Eine komplette Lebensumstellung ist die Folge, andere Wirklichkeiten stellen sich ein, andere Sichtweisen. Vor allem die Auseinandersetzung mit der Welt der Behinderten und der Behinderungen wirbelt die neue Familie durcheinander, obwohl Gernot mit seinen Eskapaden, seiner Weisheit und Musikalität, seinen Traurigkeiten und seiner Spiritualität die eigenen Grenzen an Toleranz, Humor und Belastungsfähigkeit wachsen lassen. Es geht der Autorin mit dieser sehr persönlichen Geschwister-Geschichte auch darum, den Wert und die Schattenseiten eines solchen Lebens mit einer Behinderung offen zu legen und die Vielfalt und das Anderssein der Menschen anzunehmen - mehr noch - mit Faszination als Bereicherung zu sehen.

Das Jahr 2003 wurde von der EU zum Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen proklamiert. Dadurch soll die Aufmerksamkeit auf die Bereiche der Gesellschaft gelenkt werden, in denen immer noch Hindernisse und Diskriminierungen für die etwa zehn Prozent der EU-Bürger bestehen, die mit einer Behinderung leben. Irmtraud Tarrs Bruder gehört zu eben jenen zehn Prozent der EU-Bürger. Ihr ist es mit dieser persönlichen Schilderung gelungen, den Leser nicht mit Larmoyanz, sondern mit viel Humor und Aufrichtigkeit für dieses Thema zu sensibilisieren.

Leseprobe

Wir entsprachen „späten Eltern“, als Gernot zu uns zog in unser Heim auf dem Lande. Zusammen um die 120 Jahre. Und er war ein „altes Kind“ von 46 Jahren. Wir hatten zwar ein wenig Erfahrung im Umgang mit den Kindern aus erster Ehe, aber ein Dasein für ein anderes Menschenkind rund um die Uhr, das war für uns beide Neuland. Die Entscheidung, Gernot aufzunehmen war eine reine Herzensentscheidung. Sie landete nicht wie ein Meteorit in meinem Bewusstsein, sondern entwickelte sich graduell von innen nach außen. Irgendwann befand ich mich auf diesem Weg, in den ich hineingestolpert war. Es war, als wäre ich plötzlich gefordert gewesen, eine Entscheidung zu leben, die ich selbst konstelliert hatte. Trotz meines Fachwissens konnte ich nicht wissen, worauf ich mich einließ, denn erst mit der Zeit schälten sich die Realitäten heraus, die ein Zusammenleben mit Gernot mit sich brachten. Aber ich wusste tief in meinem Innern, dass ich Gernots Hilferuf annehmen und ihn aufnehmen musste, obwohl so vieles dagegen sprach. Immer wieder tauchten Fragen auf, die mich verunsicherten: Warum mache ich das? Warum habe ich diese Aufgabe überhaupt übernommen? Bin nicht gerade ich, die bisher kinderlose Frau, die am wenigsten geeignete? Warum sollte gerade ich, die eben noch so ein buntes, reiches Leben führte, jemanden aufnehmen, der jeden Tag einen großen Teil meiner Zeit beansprucht?

Mein Leben als Konzertorganistin und Psychotherapeutin forderten mich eigentlich schon mehr als genug. Die Antwort aus meinem Innern war immer die gleiche: „Tu es. Du wirst später wissen, wozu es gut war. So kannst du ihn wenigstens kennen lernen, so lange es noch möglich ist.“ Es gab etwas in mir, das ich als Seele zu bezeichnen wage, das mir den entscheidenden Antrieb gab, den ich brauchte, um zu sagen: „Ich tue es“. Diese mühelose Vereinigung meiner widersprüchlichen inneren Stimmen zu einem eindeutigen „Ja“ war der Anfang eines neuen Lebensabschnittes. Aber das konnte ich erst im Nachhinein verstehen. Zunächst einmal war es einfach not-wendig.

Wie lässt sich dieser Neuanfang in meinem Leben erklären?

Es gab Zeiten, da setzte mich die Planung von Konzerttourneen oder Schreibprojekten in Hochstimmung. Begegnungen mit neuen Menschen, Ländern, Landschaften konnten mir den Atem rauben, und die Ankündigung eines Erfolgs verlieh mir Flügel. Große Konzerte üben zwar immer noch eine Wirkung auf mich aus, aber durch Gernot erfahre ich andere kleine Wunder, die ich früher übersehen hätte. Sein strahlendes Lachen, seine winzigen Fortschritte im Umgang mit Dingen, sein pfiffiges Gesicht, die zerknitterten Zettel mit seinen Notizen, seine Spuren in unseren Räumen, sein lautes Singen, wenn er morgens gut gelaunt aufwacht.

Dabei begann alles ganz harmlos – mein Bruder ruft mich eines Abends an – es war übrigens der 30. Juli, der Todestag unseres Vaters – und erkundigt sich, wie es mir so gehe. Ich war einigermaßen überrascht, denn seit er vor elf Jahren heiratete, hatten wir außer zu Familienfesten nur spärlichen Kontakt. Hin und wieder mal ein Anruf, wenn seine Frau verreist war, viel mehr war nicht möglich. Und nun dieser Anruf am Todestag unseres Vaters! Ich wollte endlich wissen, wie es ihm gehe, aber seine Antworten fielen so merkwürdig unverbindlich und ausweichend aus. „Man lebt so ... war auch schon besser ... man kommt so durch ... kannst du mir Geld leihen?“ Ich wurde hellhörig und beunruhigt. Sämtliche Alarmglocken schlugen an. Ich wusste: „Da stimmt etwas nicht.“ Nachts rief er nochmals an. Ohne Umschweife bat ich ihn, nun endlich zu reden:

„Gernot, was ist los?“ Mit tonloser Stimme berichtete er, dass er nun allein lebe. Seine Frau habe genug von ihm, sie sei nach elf Jahren Zusammenleben seiner müde geworden. Sie hätten sich entfremdet, und nun sei er auf dem Abstellgleis in einer kleinen Einzimmerwohnung gelandet. „Wie kann ich dich erreichen?“ frage ich. In seinem Zimmer sei kein Telefon, er besitze zwar ein Handy, aber das sei ständig defekt, außerdem gibt es keine Türglocke, aber wir könnten uns ja verabreden, dann würde er mir die Türe öffnen. Der Anblick seines Zimmers war niederschmetternd. Ein liebloses, vollgestopftes Zimmer, Essvorräte, die vergammelt waren, eine Abfalldeponie im Garten direkt unterhalb seines Zimmers. Mir verschlug es die Sprache. Ich fand es unerträglich, ihn in solch einer Umgebung zu sehen. Fieberhaft suchte er ein Stück Papier und einen Kugelschreiber, um mir seine Adresse aufzuschreiben. Er durchwühlte sämtliche Schubladen. Nach etwa fünf Minuten, die mir endlos vorkamen, findet er einen Umschlag mit elegantem Briefpapier, aber er kann immer noch nicht schreiben, weil sämtliche Kugelschreiber defekt, verbogen oder eingetrocknet sind. Wie kann er in diesem Chaos leben? Wie von weit her, hörte ich mich sagen: „Gernot, komm zu uns. Wir finden eine Lösung.“ Ohne zu zögern, stimmte er freudig zu: „Gern, komme ich. Ich muss nur noch mein Cello und mein Fahrrad mitnehmen. Alles andere ist nicht wichtig.“ So begann die Geschichte mit Gernot.

Von da an wurde mir klar: Ausweichen geht nicht. Nichts bereitet mir mehr Widerwillen als das Stehen bleiben auf halber Strecke. „Nimm an, was dir in den Weg gestellt ist“, rief eine unüberhörbare Stimme in mir. Selbst wenn ich rational nicht genau verstand, weshalb ich so reagieren musste, so gab es in mir doch ein unbeirrbares Vertrauen, das sich durch nichts und niemanden erschüttern ließ. Die Skepsis meiner Freunde, Verwandten und Bekannten konnte mich nicht erreichen. Irgend etwas in mir war viel stärker und keiner rationalen Begründung zugänglich. Ich tat, was ich aus tiefstem Herzen tun musste. Wozu sollte ich zögern? Habe ich nicht unendlich oft die Erfahrung gemacht, dass mir der Sinn dessen, was ich gerade durchlebe, erst viel später und im Nachhinein einleuchten wird? Waren es nicht die Eingebungen, die mir das schenkten, was mir die Erfahrung vorenthielt?

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